Junge Menschen gehen in Marokkos Städten auf die Straße. Die Proteste beginnen friedlich, dann brechen Chaos und Gewalt aus. Was das mit der Fußball-WM 2030 zu tun hat.

Es begann Mitte September in einem staatlichen Krankenhaus in der Stadt Agadir. Berichten zufolge kamen dort zu dieser Zeit acht schwangere Frauen, die ihre Kinder mit einem Kaiserschnitt zur Welt bringen sollten, ums Leben. Der Grund soll die schlechte medizinische Versorgung gewesen sein. Der Tod der Frauen wurde als Beleg für Missstände in Marokkos Gesundheitssystem gesehen. In dem nordafrikanischen Land herrscht generell Unzufriedenheit über die soziale Ungleichheit, von der Frauen und junge Menschen besonders betroffen sind.

Aus der Unzufriedenheit wurde eine Bewegung: Zur Zeit der Vorfälle in der Klinik startete die Gruppe „Gen Z 212“ ihren gleichnamigen Server auf der Gaming-Plattform Discord. „Gen Z“ deutet auf das junge Alter der Mitglieder hin, die überwiegend der Generation Z angehören, also etwa zwischen 1995 und 2010 geboren wurden; 212 ist die internationale Ländervorwahl Marokkos.

Bewegung wächst rasant

Die anonyme Jugendbewegung prangerte Korruption an und rief auf dem Server zu Protesten für ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem auf. Nach ersten kleineren Demonstrationen ab 27. September beschloss die Gruppe, fortan tägliche Proteste zu organisieren.

Danach wuchs die Bewegung rasant, zählt nun auf Discord mehr als 180.000 Mitglieder und ist für die größten Demonstrationen verantwortlich, die das Land seit Jahren gesehen hat. „Das Volk will ein Ende der Korruption“ oder „Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit“, riefen die jungen Leute in den Städten Marokkos.

Doch was friedlich begann, eskalierte schnell.

Was ist in den letzten Tagen in Marokko vorgefallen?

Nach eigenen Angaben lehnt „Gen Z 212“ Gewalt ab. Im Laufe der Demonstrationen kam es jedoch in mehreren Städten zu gewaltsamen Szenen mit Hunderten Verletzten und Festnahmen. Dutzende Fahrzeuge der Sicherheitskräfte und andere Autos wurden offiziellen Angaben zufolge in Brand gesetzt oder beschädigt.

Am vergangenen Mittwoch starben im südmarokkanischen Lqliaa nahe der Stadt Agadir drei Demonstranten. Sie seien von der Gendarmerie in Notwehr getötet worden, als sie versucht hätten, eine Polizeistation im Süden des Landes „zu stürmen“, erklärte Innenministeriumssprecher Rachid El Khalfi.

Laut der staatlichen Nachrichtenagentur MAP hatten die Sicherheitskräfte den Angriff zunächst mit Tränengas abgewehrt. Doch dann habe eine größere Menschenmenge die Wache gestürmt, das Gebäude und ein Fahrzeug in Brand gesetzt und versucht, Waffen, Munition und Ausrüstung zu entwenden.

Unzufriedenheit im Land wächst

Die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen in Marokko treibt sie auf die Straße. Umfragen des internationalen Arab Barometers ergaben, dass 55 Prozent der Marokkaner unter 30 Jahren auswandern wollen. Mehr als ein Drittel von ihnen ist arbeitslos.

Das alles steht im Widerspruch zur allgemeinen Entwicklung: Marokko ist aktuell das meistbesuchte Land Afrikas und hat damit Ägypten abgelöst. Die Tourismusbranche und Automobilindustrie boomen, auch bei der Nutzung erneuerbarer Energien gehört man weltweit zu den Vorreitern – und rechnet in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von mehr als vier Prozent. Viele Menschen, vor allem in ländlichen Regionen, bekommen davon aber nichts ab und leben in Armut.

Auch die Fußball-WM 2030 spielt eine Rolle

Bei all dem geht es auch um Fußball. Der 35. Afrika-Cup wird vom 21. Dezember 2025 bis zum 18. Januar 2026 in Marokko ausgetragen. Und auch Spiele der Weltmeisterschaft 2030 finden in dem Land statt. Daher lautet derzeit einer der Slogans der marokkanischen Demonstranten: „Wir wollen Krankenhäuser, keine Stadien.“

Marokko steckt im Vorfeld der Turniere mehr als zwei Milliarden Euro in den Bau von Fußballstadien und die Modernisierung von Sportanlagen. Vor diesem Hintergrund fühlen sich viele junge Menschen vom Staat vernachlässigt. Die Marokkaner sind zwar als fußballbegeistert bekannt, doch dieser Tage wird deutlich: Bessere Schulen, moderne Krankenhäuser und bezahlbare Wohnungen sind ihnen wichtiger. Der Druck auf Regierungschef Aziz Akhannouch wächst daher. „Gen Z 212“ hat ihn bereits zum Rücktritt aufgefordert.

„Uns geht es nur um diese Regierung und ihre Politik“

Das „Forbes“-Magazin schätzt Akhannouchs Vermögen auf zwei Milliarden Dollar, er ist damit der zweitreichste Mann des Landes. Marokko ist eine konstitutionelle Monarchie, seit 1999 fungiert König Mohammed VI. als Staatsoberhaupt und gilt als islamische Autorität. Das Parlament wird vom Volk gewählt.

„Gen Z 212“ versicherte, dass die Proteste nicht als Kritik am System zu sehen seien. „Uns geht es nur um diese Regierung und ihre Politik“, heißt es in einer Erklärung. „Die Kritik an der Situation sollte nicht mit einer Ablehnung der Nation verwechselt werden.“ Als Reaktion auf die Proteste hat Ministerpräsident Akhannouch sich laut MAP mittlerweile zum „Dialog“ und einer „offenen Debatte“ mit den Demonstranten bereiterklärt. Über eine Aussprache ist bislang allerdings nichts bekannt.

Entwickelt sich ein Trend?

Die Situation in Marokko lässt sich mit den kürzlichen Protesten in Nepal vergleichen (der stern berichtete). Auch hier organisierten sich mehr als 150.000 junge Menschen über die Plattform Discord – wegen eines Social-Media-Verbotes. Und auch dort kam es zu Ausschreitungen mit Todesopfern.

Bemerkenswert ist, wie sich vermeintlich harmlose Aktivitäten im digitalen Raum ins reale Leben verlagern und politischen Einfluss ausüben. Sollten die Proteste in Marokko anhalten, könnten sie die Regierung zum Handeln zwingen.

Quellen: FAZ„, „DW„, „Der Standard„, „Tagesschau„, Nachrichtenagenturen AFP und DPA