Erstmals hat die EU eine eigene Liste sicherer Herkunftsländer vorgelegt. Migrationsexperten erklären, was hinter der Entscheidung steckt und was sie für Deutschland bedeutet.

Flüchtende aus sicheren Herkunftsländern haben es schwer, Asyl zu bekommen. Für diese Länder gilt in deutschen Behörden die Regelvermutung, dass keine Verfolgungsgefahr droht. In den meisten Fällen werden Asylanträge als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Es gelten vereinfachte Fristen, beschleunigte Verfahren. 

Normalerweise entscheiden EU-Mitgliedstaaten eigenständig, welche Länder sie als sicher einschätzen. In Deutschland sind es aktuell zehn. Das hat zu einem Flickenteppich in der europäischen Migrationspolitik geführt. Nun hat die EU erstmals eine eigene Liste sicherer Herkunftsstaaten veröffentlicht: Kosovo, Bangladesch, Kolumbien, Ägypten, Indien, Marokko und Tunesien. 

Was hinter dieser Entscheidung steckt und was sie für Deutschland bedeutet, erklären zwei Migrationswissenschaftler: Hannes Schammann, Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim, und Victoria Rietig, Leiterin des Zentrums für Migration der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. 

Warum ausgerechnet jetzt eine EU-Liste sicherer Herkunftsländer?

Es ist das erste Mal, dass die EU eine solche Liste anfertigt. Was hat die EU dazu veranlasst, ausgerechnet jetzt eine gemeinsame Liste zu veröffentlichen? 

Hannes Schammann: Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass die Migrationspolitik ein spaltendes Thema in der EU war – mehr noch als etwa Wirtschaftskrisen. Die EU versucht nun, gemeinsame Ansätze in der Migrationspolitik zu finden. Man hofft, hinter dieser Liste der sicheren Herkunftsstaaten kann man die Mitgliedstaaten zu versammeln.

Die Mitgliedstaaten haben alle eigene Listen sicherer Herkunftsstaaten. Warum überlässt man es nicht den einzelnen Ländern, selbst zu entscheiden, wen sie aufnehmen? 

Hannes Schammann: Die EU versucht hier, ihre eigene Relevanz noch einmal zu betonen. In den letzten Jahren haben wir eine Renationalisierung der Migrationspolitik erlebt. Alleingänge einzelner Staaten haben die Legitimität der EU untergraben – nicht zuletzt, als der ungarische Premierminister Viktor Orbán das EU-Asylrecht konsequent umgangen und sogar den Europäischen Gerichtshof ignoriert hat. Die Liste ist Teil der Strategie, eine Re-Europäisierung hinzubekommen. Wichtiger als diese Liste ist dafür allerdings das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem. Hier drängt die EU nun auf eine schnelle Umsetzung in den Mitgliedsstaaten. 

Viel Asylsuchende, niedrige Schutzquote

Nach welchen Kriterien entscheidet die EU, ob ein Land als sicherer Herkunftsstaat gilt? 

Victoria Rietig: Die Aufgabe, eine Methode für diese Länderliste zu erstellen, lag bei der europäischen Asylagentur. Die hat sich angeschaut, aus welchen Ländern viele Asylsuchende kommen und gleichzeitig eine sehr niedrige Schutzquote haben, also im Schnitt weniger als fünf Prozent der Antragstellenden einen positiven Asylbescheid erhalten. 

Das Konzept sicherer Herkunftsländer wird oft als willkürlich kritisiert. Das klingt aber sehr systematisch. 

Victoria Rietig: Diese Liste ist trotz ihrer objektiven Kriterien ein Stück weit willkürlich. Denn die Schutzquote ist in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich, und einige Länder ziehen den Durchschnitt künstlich nach unten. Die Vergabe von Schutz ist so uneinheitlich in Europa, dass man durchaus einen politischen Antrieb dahinter erkennen kann. 

Aus Kolumbien kamen 2023 nur rund 3000 Geflüchtete nach Deutschland. Welche Motive stecken hinter dieser Einstufung? 

Hannes Schammann: Für Deutschland ist die Einstufung Kolumbiens als sicheres Herkunftsland eigentlich nicht relevant. Für Spanien dagegen dürfte diese Entscheidung wichtiger sein. Die EU hat hier versucht, für unterschiedliche Aufnahmeländer ein attraktives Gesamtpaket zu schnüren. 

Und für Deutschland? 

Victoria Rietig: Die Liste hat keine direkte Auswirkung auf die aktuelle Liste sicherer Herkunftsstaaten in Deutschland. Sie legitimiert jedoch die Ausweitung der Liste. 

Marokko, Tunesien, Ägypten und Indien

Im Koalitionsvertrag haben sich die Union und die SPD darauf verständigt, Marokko, Tunesien, Ägypten und Indien als sichere Herkunftsländer einzustufen. Ist diese Liste auch ein Gefallen an die neue schwarz-rote Koalition? 

Victoria Rietig: Ja. Die EU hat der Koalition politische Munition für ihre Entscheidung geliefert. Die Einstufung dieser Länder als sicher ist aber sehr umstritten. Sowohl Tunesien als auch Ägypten sind sehr gefährliche Länder für Oppositionskräfte. Letzteres stufen einige Beobachter sogar als unfreie Diktatur ein. Diese Liste wird sicherlich nicht die Diskussion darüber ersparen, ob diese Länder in Deutschland wirklich als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden sollten.

Warum will die neue Koalition ausgerechnet diese Länder auf der Liste haben? 

Hannes Schammann: Für Deutschland sind die nordafrikanischen Länder interessant, weil dort in den kommenden Jahren ein starkes Bevölkerungswachstum erwartet wird. Das könnte den Migrationsdruck erheblich erhöhen. Man kann ihre Einstufung als sichere Herkunftsländer daher als vorbeugende Maßnahme verstehen. Man sollte aber nicht vergessen, dass diese Einstufung vorübergehend ist – die Sicherheitslage kann sich jederzeit dramatisch ändern. 

Was bedeutet diese Liste jetzt konkret für Geflüchtete aus diesen Ländern? 

Hannes Schammann: Das hängt davon ab, wie die Mitgliedstaaten damit umgehen. Kein Mitgliedstaat muss diese Liste übernehmen – sie ist nur ein Vorschlag. Die EU versucht, den Mitgliedstaaten eine Leitplanke in der Migrationsdebatte anzubieten. Grundsätzlich gilt: Auch aus sicheren Ländern muss ein Asylantrag geprüft werden. Es kann immer sein, dass im Einzelfall politische Verfolgung vorliegt. Aber generell bedeutet die Einstufung, dass Asylanträge aus diesen Ländern künftig in einem beschleunigten Verfahren bearbeitet werden. 

Warum abgelehnt nicht abgeschoben meint

Wird die gemeinsame EU-Liste tatsächlich zu einer spürbaren Entlastung des Asylsystems führen? 

Hannes Schammann: Die eine Frage ist, ob ein Asylantrag abgelehnt werden kann. Die andere ist, ob die Person tatsächlich in ein Flugzeug nach Hause gesetzt wird. Die Liste der sicheren Herkunftsländer wird die lokalen Ausländerbehörden in dieser Frage zunächst nicht entlasten. Sie hat vor allem eine Signalwirkung nach außen. Perspektivisch besteht die Hoffnung, dass Menschen aus diesen Ländern gar nicht erst kommen. 

In der Vergangenheit hat die Signalwirkung solcher Listen nicht viel bewirkt. Warum sollte das jetzt anders sein? 

Hannes Schammann: Einige Mitgliedsstaaten der EU haben bereits eigene Listen sicherer Herkunftsländer. Indem man nun versucht, die einzelnen Listen in der EU zu harmonisieren, besteht die Hoffnung, die abschreckende Wirkung zu verstärken.