In Serbien stürzt ein Bahnhofsdach ein, und junge Menschen stehen gegen das Regime auf. Unsere Kolumnistin fragt sich: Wird ihr Protest ganz Europa wachrütteln?
Stellt euch vor, es passiert doch noch: Die allseits gescholtene, angeblich faule Generation Z rettet Europa! Es könnte so kommen. Wenngleich nicht gerade vom Berliner Prenzlauer Berg aus, sondern aus Serbien, aber hey, auch das ist Europa. Für Kenner sogar das Herz des Kontinents, schließlich fing unser aller europäisches Elend ganz in der Nähe vor 111 Jahren mit der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand an. Die meisten kennen dieses Kapitel aus dem Geschichtsunterricht unter dem Hammer-Titel „Pulverfass Balkan“.
Der Auslöser des Protests in Serbien
Zum Ernst der Lage: Im November vergangenen Jahres stürzte in Novi Sad ein Vordach am Bahnhof ein, und 16 Menschen verloren in der Folge ihr Leben, weitere wurden teils schwer verletzt. Dabei war der Bahnhof erst wenige Monate zuvor renoviert worden. Die jungen Menschen in Serbien sahen darin einen weiteren Beleg für die Korruption und Habgier, die im Land herrschen, für die Verantwortungslosigkeit ihrer aktuellen Regierung, zeigte der Einsturz doch, wie wenig die Bürger für die Machthaber zählen.
Seit Monaten ist der Protest zu einer der größten Bewegungen Europas angewachsen. Aus dem ganzen Land pilgern Studentinnen und Studenten in die Hauptstadt Belgrad, legen dort gemeinsam die Hauptverkehrsachsen lahm. Bilder gehen um die Welt, zeigen ein Meer aus Handylichtern. Die Jugend genießt den Rückhalt der Alten: In den sozialen Medien sind Videos zu sehen, in denen etwa eine Großmutter im Hinterland mit einer kleinen Tüte Proviant für die jungen Leute vor ihrem Haus steht, um sich solidarisch zu zeigen.
Protest der auf Gesichter verzichtet, sondern die Masse betont
Es sind Bilder einer Gänsehautgeneration, über die viel mehr berichtet werden müsste in Deutschland. Alles an den Protestierenden wirkt neu: Sie setzen nicht, wie in den letzten Jahren, auf medienaffine Front-frauen. Keine Greta Thunberg, keine Luisa Neubauer, nur die Bilder der Bewegung und der Massen, um den Zusammenhalt zu betonen, nicht so angreifbar zu sein durch Medien. Sie kämpfen gegen eine Regierung, die Putin nähersteht als den demokratischen Wer-ten Europas. Der Tod der Menschen am Bahnhof im November ist für diese Jugend zum Antrieb geworden; sie will nicht in dieser Welt der gnadenlosen Eigen-interessen leben.
Um die Proteste noch bekannter zu machen, fahren jetzt 80 junge Menschen auf dem Rad von Belgrad nach Straßburg, auch durch Süddeutschland, weil sie uns daran erinnern wollen, wie es um dieses Europa steht. In Straßburg übergeben sie schließlich dem Europarat einen Brief.
Der Traum von einem Europa lebt
Diese Studenten aus Serbien durchbrechen die Mauern der Angst, in denen dieses Regime unter Aleksandar Vučić ihre Eltern noch gefangen hielt. Sie erinnern alle an den Traum von Europa. Für viele bei uns scheint dieser Traum selbstverständlich; für unsere Gleich-gültigkeit sollten wir uns schämen, wenn wir die Proteste in Serbien sehen.
Die jungen Menschen dort sind derzeit Anti-Trum-pisten, das gelebte Gegenteil autoritärer Führung. Sie handeln als kollektive Kraft, statt auf die Macht des Stärkeren zu setzen. Einige Akademiker kritisieren sie, weil sie angeblich zu anarchisch seien, zu wenig organisiert, kein klares Programm hätten.
Ihr Programm aber ist die Menschlichkeit; sie setzen auf Zusammenhalt und Beharrlichkeit, niemand baut an einer Medienkarriere als Aktivist. Manchmal wirken die Bilder der Solidarität in diesen Zeiten, als kämen sie von einem anderen Stern. Dabei sind wir das. Wir. Selbst wenn gerade viele diese Kraft vergessen haben.
So let’s ride!