Alexander Owetschkins Rekordjagd ist beendet: Sein 895. Treffer ist ein neuer Spitzenwert für die NHL. Sein erster Gratulant? Der, dem er den Rekord abgenommen hat.

Es ist dieser eine Moment, in dem auch dem letzten Eishockeyfan klar wird, dass dort ein Jahrhunderttalent auf dem Eis steht. Es ist der 15. Januar 2006, die Washington Capitals spielen bei den Arizona Coyotes. Ein Spiel zweier abgeschlagener Mannschaften in der National Hockey League, kurz NHL, der besten Eishockeyliga der Welt. Die Capitals führen im letzten Drittel 5:1, als Alexander Owetschkin zu einem Solo ansetzt, seinen Gegenspieler der Coyotes umkurvt und zu Fall kommt. Auf dem Rücken liegend schafft es der 20-Jährige aber irgendwie, die Scheibe mit einer Pirouette im Tor Arizonas unterzubringen.

Für Owetschkin ist es die erste Saison in der NHL, die er im Sturm erobert. 31 Tore hat er zu diesem bereits erzielt – in nur 43 Spielen. Lange war unklar, ob er überhaupt in Nordamerika aufs Eis gehen würde, seine Eltern wollten, dass er in Moskau bleibt. An diesem Abend im Januar 2006 wird Owetschkin zur jungen Legende – das Tor, in den USA mit dem Spitznamen „The Goal“ betitelt, gilt bis heute als der großartigste Treffer der 107-jährigen NHL-Geschichte. Ein Tor so unbegreiflich, dass selbst dem TV-Kommentator ein „Ihr wollt mich doch verarschen“ herausrutscht.

Owetschkin Arizona

Nach dem Treffer herrscht Erstaunen: bei den Capitals, bei den Zuschauern, bei den Coyotes und bei Arizonas Trainer Wayne Gretzky. Gretzky steht mit offenem Mund an der Bande, den Blick auf die Wiederholungen auf dem Videowürfel gebannt. Gretzky hat viel in seiner Karriere gesehen. Der heute 64-Jährige ist vermutlich der beste Spieler, den es im Eishockey jemals gab. Der Kanadier hält zahlreiche Rekorde – einen aber ist er seit Sonntagabend los. Den der meisten Tore in der Karriere in der regulären Saison. Der neue Rekordhalter? Alexander Owetschkin, der beim Capitals-Gastspiel den New York Islanders am Sonntagabend seinen 895. Treffer erzielte. Im Publikum: Wayne Gretzky – doch dazu später mehr.

Zu Beginn seiner Karriere gilt Owetschkin neben Pittsburghs Sydney Crosby als ein neues Versprechen ans Eishockey – und die große Hoffnung der NHL. Als beide im Oktober 2005 erstmals die Eisfläche betreten, ist die Liga in der größten Krise ihrer Geschichte. Es fehlt an einem Aushängeschild wie Gretzky, der 1999 seine Karriere beendet hatte und den Torrekord seit März 1994 innehatte. Dazu war die Saison davor ausgefallen: Die Spieler hatten gestreikt, weil die Liga eine Gehaltsobergrenze einführen wollte – so wie es sie auch in anderen US-Sportarten gibt. Die beiden Seiten lagen so weit auseinander, dass erstmals in der Geschichte des US-Sports eine komplette Saison abgesagt wurde.

Doch Owetschkin (und auch Crosby) erfüllen die Erwartungen. Mittlerweile im Spätherbst ihrer Karrieren angekommen, gelten beide heute als die besten Spieler ihrer Generation. Bereits seit Monaten bereitete sich die NHL darauf vor, dass Owetschkin einen neuen Rekord aufstellen würde. Auf der Startseite der Liga zählte ein Banner die Zahl der Tore herunter, die der Russe für den neuen Rekord noch erzielen musste. Mit „The Gr8 chase“ (die große Jagd), mit der 8 als Wortspiel in Anlehnung an die Rückennummer des Superstars, würdigte die Liga den vielleicht besten Torjäger aller Zeiten.

Putin ist Owetschkins größte Schwachstelle

Owetschkin vereint auf dem Eis, was nur wenige Spieler haben: einen unnachahmlichen Torinstinkt, gepaart mit Geschwindigkeit, Physis und Führungsqualitäten. Abseits des Eises ist der 39-Jährige wie viele Superstars in den USA in soziale Events eingebunden, spendet Eintrittskarten an bedürftige Familien und Geld an Wohltätigkeitsorganisationen. Dass sich der zweimalige Familienvater Owetschkin nie von Russlands Präsident Wladimir Putin distanziert und den Angriffskrieg auf die Ukraine nie verurteilt hat, ist dabei meist der einzige Kritikpunkt an Owetschkin. Zwar rief „Ovi“ zur Beendigung des Konflikts auf, zu Putin aber ging er nie auf Abstand.

Mit dem russischen Präsidenten ist Owetschkin, der einer der größten Sportstars seines Heimatlandes ist, befreundet. Putin beschenkte Owetschkin zu dessen Hochzeit 2016 mit einem Tee-Service. Im Gegenzug gründete der Sportstar 2017 das „Team Putin“, das zur Wiederwahl des Präsidenten im Folgejahr aufrief. Allerdings interessieren sich Fans und Verantwortliche in den USA herzlich wenig um Owetschkins politische Interessen. Die Show muss weitergehen, und wo Owetschkin ist, ist die große Show meist nicht fern.

Dabei hatte es noch vor der Saison Zweifel gegeben, ob der mittlerweile 39-Jährige in dieser Spielzeit überhaupt den Rekord brechen könnte. Nur 31 Treffer hatte er in der vergangenen Spielzeit erzielt, so wenige – die durch Corona verkürzte Spielzeit 2020 ausgenommen – wie seit acht Jahren nicht mehr. Zumal es bei den Capitals nicht mehr rund lief. Seit der Meisterschaft 2018 verabschiedete sich das Hauptstadt-Team immer in der ersten Runde der Playoffs, die Formkurve des Teams zeigte nach unten. 

Mit der neuen Saison aber blühten die Capitals angeführt von Owetschkin auf. 15 Tore erzielte der Flügelstürmer in den ersten 18 Partien, ehe ihn eine Beinverletzung anderthalb Monate außer Gefecht setzte. Owetschkin auf Eis gelegt – das kam in der Karriere des Torjägers selten vor. Als er zu Beginn seiner Zeit in der NHL einen Puck mitten ins Gesicht bekam, spielte „Ovi“ einfach weiter. Angesprochen auf die Szene erklärte Owetschkin auf der Pressekonferenz in noch brüchigem Englisch: „Russian machine never breaks“. Die russische Maschine ging auch nach der Verletzung im November nicht kaputt und lieferte weiter beständig Tore. Zum 14. Mal in seiner Karriere erzielte er mehr als 40 Tore in einer Saison – und baute seinen eigenen Rekord damit aus.

Dass es überhaupt jemand schaffen würde, den Rekord von Wayne Gretzky zu überbieten, galt lange als ausgeschlossen. Selbst Owetschkin schloss noch bis vor wenigen Jahren aus, dass er mehr als 894 Tore erzielen könnte. Zu sehr hat sich das Eishockey in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Das Spiel ist taktischer, die Ausrüstung der Torhüter besser, die Anzahl der Tore weniger geworden. Die Edmonton Oilers, mit denen Gretzky eine Ära prägte, sind bis heute das einzige Team, das mehr als 400 Tore erzielte – und das gleich in fünf aufeinanderfolgenden Spielzeiten, in denen Gretzky immer Topscorer wurde. Während der Karriere von Owetschkin, die er komplett bei den Capitals verbrachte, gelang es dem Hauptstadt-Klub überhaupt nur ein Mal, mehr als 300 Tore in einer Spielzeit zu erzielen.

Ein Tor für die Geschichtsbücher: Das 895. Tor von Alexander Owetschkin der regulären Saison – erzielt aus dem linken Bullykreis
© IMAGO/Geoff Burke

Zugutekamen Owetschkin zwei Dinge: Gretzky war nie der personifizierte Torjäger, neben seinen 894 Toren lieferte „The Great One“ noch 1963 Vorlagen. Bis heute hat Gretzky mehr Vorlagen in seiner Karriere gegeben als irgendein anderer Spieler in der Geschichte überhaupt Tore und Vorlagen kombiniert gesammelt hat. Und das Spiel der Capitals ist ausgerichtet auf „Ovi“ und seinen unerbittlichen Torinstinkt. Im linken Bullykreis fand der Stürmer in seiner Karriere sein „Zuhause“, erzielte zahlreiche seiner Tore aus diesem Bereich. Auch den Rekordtreffer am Sonntag, zugleich sein 325. Tor in Überzahl – ebenfalls ein Spitzenwert – erzielte er von dort. 

Alexander Owetschkin feiert – Wayne Gretzky gratuliert

Dass Gretzky beim 895. Tore im Publikum war, kommt nicht von ungefähr. Bereits seit Jahren stehen die beiden in Kontakt, Owetschkin berichtete davon, dass Gretzky einer seinen größten Unterstützer sei. „Wenn eine solche Person mir die Daumen drückt, ist das ziemlich cool“, sagte der Russe. „Selbst wenn ich eine Flaute habe, schreibt er mir manchmal eine SMS und sagt: ‚Mach dir keine Sorgen. Das kommt schon noch.‘ Er ist auf meiner Seite.“

Schon vor Monaten hatte Gretzky angekündigt, beim Rekord in der Halle zu sein und der erste zu sein, der Owetschkin gratulieren werde. Dass es dann auch so kam, hat auch mit der Eventisierung des Sports in Nordamerika zu tun. Denn nach dem Rekordtreffer im zweiten Drittel ging es nicht einfach weiter. Die NHL unterbrach die Partie für 20 Minuten, um Owetschkin direkt auf dem Eis zu ehren – mit Gretzky als erstem Gratulanten und dem neuen Rekordtorjäger umringt von seiner Frau, den beiden Kindern und seiner Mutter. Dass die Capitals anschließend ihr Spiel 1:4 verloren, wurde nur zur Randnotiz.

Zwei Größen unter sich: Wayne Gretzky und Alexander Owetschkin bei der Ehrung während des Spiels am Sonntag
© Geoff Burke

„Rekorde sind dafür da, um gebrochen zu werden. Aber ich weiß nicht, wer diesen Rekord brechen sollte“, sagte Gretzky am Sonntagabend auf dem Eis. Doch das hat man auch gesagt, als Gretzky seinen für die Ewigkeit gedachten Torrekord aufstellte.