Ökonom Michael Hüther hat zuletzt dafür geworben, dass Deutschland mehr Schulden aufnimmt, um zu investieren. Was die Bundesregierung jetzt macht, hält er aber für Trickserei.

Herr Hüther, der Haushalt für 2025 ist beschlossen, aber eigentlich wird es jetzt erst richtig interessant: Finanzminister Lars Klingbeil plant bis 2029 rund 850 Milliarden Euro an neuen Schulden. Das ist die Hälfte der aktuell schon bestehenden Verschuldung. Ist das nicht langsam zu viel?
Es wird dann zu viel, wenn die Verwendung nicht stimmt. Das war immer mein Argument. Beim Sondervermögen, Infrastruktur und jetzt auch Klimaneutralität, kommt es auf die Verwendung an. Diese Mittel dürfen nicht einfach bestehende Ausgaben ersetzen, sondern müssen zusätzlich sein.

Stimmt die Verwendung denn gerade?
Nein. Was die Regierung gerade macht, ist ein Skandal. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass man in dieser Form mit Tricksereien arbeitet. 

Wirklich nicht?
Wirklich nicht. Weil ich eigentlich vernünftige Menschen am Werk gesehen habe. Die Einsicht, dass man finanzpolitisch nicht zurande kommt und die Aufgaben nicht erfüllen kann, hat ja zu diesen Ausnahmen von der Schuldenbremse geführt. Aber dass man das jetzt so verplempert und für jeden sichtbar einen Verschiebebahnhof organisiert, finde ich sehr bedenklich. Ich habe dafür kein Verständnis. Auf Länderebene ist die Zusätzlichkeit ganz weggefallen. Auf Bundesebene hält man sich mit Quoten irgendwie über Wasser. Es ist genau das, was nicht passieren sollte.

Manche Investitionen werden nun nicht mehr im Kernhaushalt finanziert, sondern im Sondervermögen, sodass im Kernhaushalt Raum entsteht für andere Ausgaben. Sie würden sagen: Das Problem ist nicht die Summe der Verschuldung, sondern vor allem, wie das Geld genutzt wird?
Die Finanzierungswege des Staates müssen sich an den öffentlichen Aufgaben orientieren. Langfristige Investitionen, die mehreren Generationen nutzen, sollten sinnvollerweise kreditfinanziert werden. Sonst müsste die aktuelle Generation alles aus ihrem Steueretat bezahlen – das funktioniert nicht. Konsumtive Ausgaben müssen aber immer aus dem Steuerhaushalt finanziert werden. 

Was zum Beispiel?
Zum Beispiel Verteidigung: Ich war auch für eine Aufstockung des bestehenden Sondervermögens. Aber jetzt gibt es zeitlich unbegrenzt Kreditfinanzierungsmöglichkeiten oberhalb von 1 Prozent des BIP – das ist auf Dauer nicht tragbar. Verteidigungsausgaben müssen aus dem Steuerhaushalt getragen werden. Unter Helmut Schmidt haben wir regelmäßig mindestens 3 Prozent des BIP für Verteidigung ausgegeben, und zwar nicht mit Schulden, sondern aus Steuereinnahmen.

Muss man mit Blick auf die Auseinandersetzung um die Schuldenbremse der letzten Jahre dann nicht sagen: Christian Lindner hatte doch recht?
Ich würde eher sagen: Die Tatsache, dass FDP und CDU so lange überhaupt nicht bereit waren, über die Probleme der Schuldenbremse zu sprechen, hat uns in diese Situation geführt. Jetzt erleben wir eine schlecht vorbereitete Union und ein SPD-Finanzministerium, das trickst. Es gibt ja keine Alternative zu diesem Aufholen jahrzehntelanger Unterlassungen. Ich verstehe immer noch nicht, wo Christian Lindner die nötigen Milliarden im Kernhaushalt finden wollte.

Dennoch zeigt sich ja, dass die Befürchtung nicht ganz falsch war, dass das Geld am Ende für Wahlgeschenke statt für Investitionen ausgegeben wird.
So kann man argumentieren. Aber ich würde das Argument dann ernst nehmen, wenn die Kritiker auch sagen würden, wie sie die Probleme lösen wollen. Der Hinweis ist immer: Der Staat soll die Ausgabenseite reduzieren. Das ist wirklich etwas dürftig.

Das Bittere ist nur, dass der Effekt, den man sich durch die Schulden erhofft hatte, verpufft durch die Zweckentfremdung der Investitionsmittel. Einen richtigen Aufschwung werden wir so nicht bekommen, oder?
Einen konjunkturellen Impuls werden wir schon bekommen. Aber wir bekommen keine Veränderung des Wachstumstrends. Was wir brauchen, ist ja kein Konjunkturfeuerwerk, sondern sind wirklich strukturelle Veränderungen, die uns wieder auf einen höheren Wachstumspfad bringen.

Schulden sind die eine Möglichkeit für Investitionen, Sparen ist die andere. Wo sehen Sie das größte Potenzial dafür?
Im größten Etat kann man auch am meisten mobilisieren, also im Bereich Arbeit und Soziales. Vor allem braucht es eine Rentenreform, etwa eine dynamische Rente, bei der das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt ist. Wir müssen außerdem über Arbeitszeit reden: In Deutschland arbeiten Vollzeiterwerbstätige 249 Stunden weniger als in der Schweiz, während wir bis zum Ende der Legislaturperiode zwei Millionen Erwerbstätige verlieren. Auch die Krankenhäuser sind ein großer Kostenblock – hier ist die Reform von Lauterbach im Grundsatz richtig, die sollte man jetzt nicht verwässern. Beim Bürgergeld muss man die Anreizstrukturen prüfen, aber die Einsparpotenziale sind begrenzt. Die 10 Milliarden Euro, von denen die CDU gerne spricht, sind da nicht zu holen.

Die Bundesregierung hat zwar einen „Herbst der Reformen“ angekündigt, bisher sieht man davon aber wenig. Sehen Sie einen Weg, wie sich das ändern könnte?
Ich glaube, die Regierung weiß, dass sie auf dünnem Eis unterwegs ist. Sie müsste nur mal aus ihrer Kommunikation über Wortwolken rauskommen. Da wird dann behauptet, wir lebten über unseren Verhältnissen. Das ist abstrakt und verunsichert die Leute. Solche Sätze sind irgendwie plausibel, aber eigentlich nichtssagend, und sie führen vor allem zu keiner konkreten Politik. Dabei bräuchte es genau die jetzt. Benennt drei bis vier große Projekte. Dann wird Politik erklärbar und verständlich.