Die schwarz-rote Koalition hat sich nicht nur bei der Rente große Sozialreformen vorgenommen – und mehrere Arbeitsgruppen und Kommissionen gegründet. Der Überblick.

Dem deutschen Sozialsystem droht der Kollaps – ein Satz wie aus der Apokalypse. Leider ist er keine Fiktion, sondern womöglich bald Realität. Die Zahl der Rentner steigt, die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Die Defizite in Kranken-, Renten- und Pflegekassen müssen mit Steuergeld ausgeglichen werden. Hinzu kommen steigende Ausgaben für Sozialleistungen wie das Bürgergeld. Etwa 190 Milliarden Euro – fast 40 Prozent des Bundeshaushalts – fließen allein in diesem Jahr in das Sozialsystem.

Um den Zusammenbruch zu verhindern, hat sich die Koalition große Reformen vorgenommen – und gleich mal in mehrere Kommissionen delegiert. Anfang der Woche trat erstmals die große „Sozialstaatskommission“ der Bundessozialministerin zusammen, weitere zur Zukunft von Rente oder Pflege sollen folgen oder beraten bereits. Ein Wegweiser durch die politischen Problemzonen:

Bürgergeld

Das Problem: Die Ausgaben für das Bürgergeld stiegen 2024 auf knapp 47 Milliarden Euro. Für dieses Jahr sind noch drei Milliarden Euro mehr eingeplant. Fast die Hälfte der mehr als fünf Millionen Empfänger sind ausländische Bürger. Der Anteil von Flüchtlingen liegt bei etwa 30 Prozent. 

Der Weg: Statt Bürgergeld ist eine „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ geplant. Wer zumutbare Arbeit verweigert oder gegen Pflichten verstößt, soll schneller und härter bestraft werden. Gestritten wird darüber, ob Geldleistungen ganz gestrichen werden können. Das Bundesverfassungsgericht hatte das 2019 als verfassungswidrig eingestuft.

Zeitplan: Laut Plänen der SPD-Ministerin für Arbeit und Soziales, Bärbel Bas, sollen ukrainische Flüchtlinge, die nach dem 1. April 2025 nach Deutschland gekommen sind, nicht mehr Bürgergeld erhalten, sondern vorerst nur noch ähnliche Leistungen wie Asylbewerber. Zur Reform des Bürgergelds will Bas im September einen Gesetzentwurf vorlegen, der ein Jahr später in Kraft treten könnte. Sogar CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagt: „Qualität geht vor Schnelligkeit.“  

Rente

Problem: Die Rente lässt sich nicht allein aus den Beiträgen finanzieren. Die Zuschüsse summieren sich 2025 auf mehr als 122 Milliarden Euro. Das liegt auch daran, dass der „Nachhaltigkeitsfaktor“ 2018 ausgesetzt wurde. Seitdem ist das Rentenniveau bei mindestens 48 Prozent des Durchschnittslohnes festgelegt. Dabei soll es bis 2031 bleiben. Auch die Rente mit 63 wird beibehalten, die Mütterrente, das Lieblingsprojekt der CSU, soll sogar steigen.

Weg: Die Bundesregierung will erst 2026 eine Rentenkommission einsetzen, die Vorschläge für eine Stabilisierung der Rente erarbeiten soll. Federführend ist auch hier das Bundesarbeitsministerium unter der SPD-Vorsitzenden Bärbel Bas. Die Vorschläge reichen von der Wiedereinführung des Nachhaltigkeitsfaktors über die Abschaffung der Rente mit 63 bis zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit.

Zeitplan: Die Kommission soll bis Mitte 2027 Ergebnisse vorlegen. Reformen könnten noch vor der Bundestagswahl 2029 beschlossen werden. Sicher scheint nur: Der Beitragssatz soll 2027 von derzeit 18,6 auf 18,8 Prozent ansteigen. Reicht das?

Pflege

Problem: Die jährlichen Kosten der Pflegeversicherung stiegen seit ihrer Einführung vor 30 Jahren von vier auf etwa 60 Milliarden Euro. Die Beiträge kletterten von 1,0 auf aktuell 3,6 Prozent (plus 0,6 Prozent Zuschlag für Kinderlose) – und trotzdem decken sie die Ausgaben nicht. Im vorigen Jahr betrug das Defizit 1,54 Milliarden Euro. Bis 2029 könnte die Lücke auf mehr als zwölf Milliarden steigen. Gleichzeitig müssen Pflegebedürftige für einen Platz immer mehr zuzahlen. Zuletzt waren im Schnitt rund 3100 Euro pro Monat fällig.

Weg: Seit Juli tagt eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform, unterstützt durch zwei Facharbeitsgruppen. Die Krankenkassen fordern etwa, dass der Bund die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige übernimmt. Auch für die pandemiebedingten Mehrkosten von fünf Milliarden Euro soll der Bund zahlen. Gefordert wird eine stärkere Digitalisierung, eine bessere Pflegevorsorge und – natürlich – der Abbau von Bürokratie.

Ziel: Bis Dezember sollen Eckpunkte für eine Pflegereform erarbeitet werden. 

Gesundheit

Problem: Die Kosten für das Gesundheitssystem dürften 2025 auf die Rekordsumme von mehr als 340 Milliarden Euro steigen. Das erwartete Defizit liegt bei 47 Milliarden. Pro Jahr schießt der Bund deshalb mindestens 14,5 Milliarden Euro zu. Auch Arbeitnehmer müssen immer mehr zahlen. Neben dem Basissatz von 14,6 Prozent stieg der Zusatzbeitrag auf durchschnittlich knapp drei Prozent. Hinzu kommen wachsende strukturelle Defizite: Es fehlt an Pflegepersonal, Fach- und Hausärzten.

Weg: Die Krankenhausreform wurde noch von der Ampel auf den Weg gebracht. Krankenhäuser sollen sich spezialisieren, ineffiziente Kliniken schließen. Für die Transformation gibt es einen 50-Milliarden-Fonds. Auch die elektronische Patientenakte ist eingeführt. Die aktuelle Koalition will nun „die Anzahl nicht bedarfsgerechter Arztkontakte“ reduzieren.

Zeitplan: Ab 2027 wird das neue Klinik-Finanzierungssystem erprobt und ab 2028 scharf gestellt. Eine grundlegende Gesundheitsreform ist nicht geplant.

Schuldenbremse

Problem: Die Schuldenbremse begrenzt die Neuverschuldung auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur bei einer Wirtschaftskrise oder in Notlagen darf der Staat mehr Schulden machen. Für Militärausgaben hat noch der alte Bundestag diese Regel aufgehoben. Zudem hat er Sonderkredite von 500 Milliarden Euro für Investitionen genehmigt. Der SPD reicht das nicht, sie verlangt eine grundlegende Reform.

Weg: Im Koalitionsvertrag heißt es: Eine Kommission soll einen Vorschlag zur Modernisierung der Bremse entwickeln, „die dauerhaft zusätzliche Investitionen in die Stärkung unseres Landes ermöglicht.“

Zeitplan: Eigentlich haben Union und SPD vereinbart, bis Ende des Jahres das Grundgesetz erneut zu ändern. Doch der Zeitplan ist nicht zu halten. Das liegt nicht nur an der Union, die gar keinen Änderungsbedarf sieht, sondern auch an der fehlenden Zweidrittel-Mehrheit. Um nicht auf Stimmen der AfD angewiesen zu sein, müssen Grünen und Linke überzeugt werden.

Und sonst so?

Wehrpflicht: Die Bundeswehr muss wachsen. Helfen soll ein neues Wehrdienstgesetz. Wird die Sollgröße nicht auf freiwilliger Basis erfüllt, könnte die Rückkehr der Wehrpflicht bevorstehen. Teile der Union wollen schneller dorthin zurück.

Steuerreform: Der Investitionsbooster ist beschlossen, die Senkung der Körperschaftssteuer (schrittweise) und der Mehrwertsteuer in der Gastronomie, doch die Koalition streitet weiter. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir werden die Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislatur senken.“ Dafür will die SPD Spitzenverdiener und hohe Vermögen stärker belasten, die Union: nicht.

Staatsreform: Im Sommer legte eine Kommission zur Staatsreform ihren Abschlussbericht vor. Er umfasst 35 Vorschläge. Bis Dezember sollen Bund und Länder eine verbindliche Agenda vorlegen, was bis wann, wo und wie umgesetzt werden soll.