Die SPD kommt nicht aus dem Tief. Die Partei stecke gleich doppelt in der Klemme, glaubt der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Er sieht für ihre Zukunft nur zwei Optionen.
Herr von Lucke, in Umfragen dümpelt die SPD bei 14 Prozent. Das Vertrauen in die Führung ist weg, bei den anstehenden Landtagswahlen drohen schlimme Ergebnisse. War es das mit der Volkspartei?
Das kann man leider so sagen. Die SPD ist nicht mehr die Partei, die sie einmal war. Sie ist aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage, eine Regierung unter ihrer Führung zu bilden. Das hat die Volkspartei SPD ab 1969, seit der ersten SPD-geführten Regierung unter Willy Brandt, immer ausgemacht. Doch das ist heute Geschichte.
Albrecht von Lucke ist Politologe, Jurist und Redakteur der „Blätter für deutsche und internationale Politik“
© Uwe Koch
„Isch over“, hätte Wolfgang Schäuble gesagt. Es ist also eine Selbstlüge der Genossen, wenn sie so tun, als handele es sich nur um ein Form-Tief?
Ja, es ist tatsächlich „over“, nämlich vorbei mit der Möglichkeit, in einer anderen Konstellation als mit der wenig geliebten Union koalitionsfähig zu sein. Das sagt viel aus über die gegenwärtige Dramatik im Land. Die tiefe Krise der SPD ist symptomatisch für die Krise der Regierung.
Wie meinen Sie das?
Einerseits ist die SPD unabdingbar für die Fortsetzung der Koalition. Andererseits wird sie in dieser Regierung zum Risikofaktor, weil sie so geschwächt ist und keine Option hat, wieder selbst zu Kräften zu kommen. Sie steckt in der Klemme. Sie wird angegriffen von links, wo die Linkspartei mit einer fundamentalistischen Politik auf die Barrikaden lockt. Auf der anderen Seite verliert die SPD erheblich nach rechts, weil ihre früheren Stammwähler, die Arbeiter, in Teilen lieber die AfD wählen oder auch die Union. Aus diesem Dilemma gibt es keine Exit-Option.
Unter den Arbeitern fühlen sich viele inzwischen offenkundig besser von anderen vertreten: 38 Prozent wählten bei der Bundestagswahl die AfD, nur zwölf Prozent die SPD. Selbst die Union schnitt in diesem Milieu mit 22 Prozent besser ab. Wer hat sich mehr verändert – die SPD oder die Arbeiter?
Die SPD hat den Kontakt zur Arbeiterschaft verloren. Das sehen wir allein in der Zusammensetzung der Parlamente. Einer ihrer Gründerväter, August Bebel, war gelernter Drechslergeselle. Jahrzehntelang gab es in der Sozialdemokratie eine hohe Identität zwischen politischem Personal und der von ihr vertretenen Klasse. Auch Friedrich Ebert, der erste Reichspräsident, stammte aus der Arbeiterklasse. Diese Zeiten sind lange vorbei.
Wo war der Bruch?
Spätestens mit 1968 begann der Aufstieg der Bildungsbürgerkinder in der SPD und der Bedeutungsverlust der Arbeiterschaft. Es ist schon ironisch, dass ausgerechnet mit Gerhard Schröder noch einmal ein Arbeiterkind ins Kanzleramt kam und von 1998 bis 2005 eine kurze rot-grüne Epoche einleitete.
Was ist das größte Problem der SPD?
Die SPD leidet unter einer doppelten Repräsentationslücke. Einerseits vertreten ihre Politiker nicht mehr die Arbeiterinnen und Arbeiter. Andererseits trifft sie nicht mehr die Tonlage ihrer einstigen Stammwählerschaft.
Weil die wichtigsten sozialen Fragen der Gegenwart eben nicht mehr Mieten oder Lohn sind, sondern Migration? Die SPD scheint keine Antwort darauf zu haben, aus Angst, in die rechte Ecke gestellt zu werden.
Das ist mit Sicherheit ein Teil des Problems. Die alte soziale Frage lautete: Wie kann man die Kluft zwischen oben und unten verringern? Ein klassisches SPD-Thema. Die AfD hat daraus eine neue soziale Frage gemacht: Wie halten wir die Migranten draußen? Sie hat die soziale Frage quasi umkodiert – zu „wir da drinnen“ gegen „die da draußen“ – und damit einen erheblichen Teil der Arbeiterschaft erreicht. Aber es gibt noch ein weiteres Dilemma für die SPD …
Nämlich?
Die alte soziale Frage ist ja nicht verschwunden, sondern im Gewand der Linkspartei wieder aufgetaucht, die zu hohe Mieten, zu wenig Beteiligung und Solidarität für die sozial Schwachen zum großen Thema macht.
Ist es wirklich nur die Schuld der anderen? Früher stand die SPD für das Versprechen „Aufstieg durch Bildung“. Heute geht es ihr um Umverteilung. Die Allzweckwaffe ist nicht mehr Bildung, sondern höhere Steuern. Ist das die falsche Erzählung, um wieder groß zu werden?
Ja, in der Tat. Bei denen, die sehr hart ihren Lohn erarbeiten müssen, ist der Eindruck entstanden, dass die Bezieher von Bürgergeld zu sehr gefördert, aber nicht hinreichend gefordert werden. Deshalb hat die SPD bei vielen inzwischen eher den Ruf, sich um die zu kümmern, die arbeitslos sind. SPD-Chef Lars Klingbeil versucht daher, die SPD wieder zu der Partei der Arbeit zu machen, die sie einmal war.
Aber mit welchem Profil kann das gelingen? Sollte die SPD, wie es viele nach der Ära Schröder ja gefordert haben, wieder mehr nach links rücken, oder sollte sie versuchen, sich noch radikaler zu positionieren?
Das genau ist die große Frage. Die SPD war stets eine Sowohl-als-auch-Partei. Einerseits stand sie für grundlegende Reformen, andererseits agierte sie stets pragmatisch. Sie hatte eben sowohl einen Willy Brandt als großen Visionär wie auch Pragmatiker wie Helmut Schmidt. Diese Fähigkeit, beides zu bedienen, hat sie verloren. Nur Linkssein ist keine Lösung. Denn dort hat die SPD mit der Linkspartei eine Konkurrenz, die sie im utopischen Linkssein gar nicht übertreffen kann.
Also eher nach Mitte-rechts?
Da steckt Lars Klingbeil in einer Falle. Als Finanzminister wird er – man schaue nur auf den knappen Bundeshaushalt 2026 – vor allem finanzielle Grausamkeiten verantworten. Da kann er kaum erwarten, dass das vonseiten der Arbeiterschaft belohnt wird. Im Gegenteil: Er läuft Gefahr, durch härtere Einsparungen auch die noch zu verprellen, die man bislang noch halten konnte.
Klingt ausweglos.
Klingbeil kann jetzt allenfalls in Kombination mit einer fürsorglichen Co-Vorsitzenden Bärbel Bas als Arbeitsministerin diese Brücke zu schlagen versuchen: ganz nach dem Prinzip von Gerhard Schröder „fördern und fordern“. Klingbeil steht fürs Fordern, Bas fürs Fördern. Darin steckt aber eine weitere Gefahr für ihn. Klingbeil ist weit weniger stark, als er immer dargestellt wird. Und es könnte ihn noch weiter schwächen, wenn man jetzt die Sozialikone Bas auf den Schild hebt. Diese Diskrepanz zeigt, wie schwer es der SPD fällt, härtere Reformen bei den anstehenden großen Themen – Rente, Pflege, Bürgergeld – zu wagen und zugleich den Anspruch zu wahren, die alte Sozialpartei zu sein. Ich sehe nicht, wie sie aus dieser Zerrissenheit herauskommen kann.
Gegen ihre Existenzkrise scheint die Koalition mit der Union für die SPD nicht hilfreich zu sein. Im Gegenteil, da mehren sich die Niederlagen. Der versprochene Mindestlohn von 15 Euro, der erst mal nicht kommt. Oder die Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, die die SPD bislang noch nicht durchsetzen konnte. Müsste die SPD, um sich zu retten, in die Opposition gehen?
Die Frage werden sich manche in der SPD mittlerweile wieder stellen. Aber die Realisten wissen: Die GroKo ist fast die letzte überhaupt regierungstaugliche Koalition im demokratischen Spektrum. Und die SPD hat es in früheren Zeiten auch aus der Opposition heraus nicht vermocht, unbedingt stärker zu werden. Das zeigt, wie tief ihre Krise ist.
Braucht es neues Personal?
Die SPD hat nach wie vor einen ziemlich unbeeinträchtigten Hoffnungsträger, das ist Boris Pistorius. Ich glaube, er hält seine Munition derzeit geschickt trocken. Viel spricht dafür, dass er in zwei Jahren doch noch gerufen wird. Aber auch Pistorius hätte als Kandidat das Problem, dass viele, die seine Verteidigungspolitik mit der klaren Nato-Bindung schätzen, am Ende doch eher die Union wählen würden. So wie damals bei Helmut Schmidt, von dem es 1976 ironisch hieß, er sei der beste Kandidat, den die CDU/CSU je hatte, und trotzdem wählten am Ende mehr Wähler die Union und Helmut Kohl. Zumal die SPD heute ein eher unsicherer Kantonist ist: Beim Thema Verteidigung wollen Teile der Basis in eine andere Richtung als Pistorius.
Was würden Sie der SPD also raten?
Die SPD hat nicht nur ihre Identifikationsfiguren weitgehend verloren, sondern auch die Verankerung in allen gesellschaftlichen Schichten. Wenn es ihr nicht gelingt, wieder gesellschaftliche Impulse zu setzen, dann wird sie auch nicht wieder zu Kräften kommen.
Herr von Lucke, lassen Sie uns mal eine Prognose wagen: Wird es in 20 Jahren die SPD noch geben?
Es gibt zwei Optionen. Die eine ist der französische Weg. Dort hat die letzte sozialistische Regierung unter einem schwachen Parteiführer und Präsidenten François Hollande dazu geführt, dass in der Mitte Frankreichs nur noch Platz für eine einzige Partei war: für „En Marche“ von Emmanuel Macron. Da es nach einer solchen neuen Sammlungsbewegung der Mitte bei uns nicht aussieht, könnte die Union diesen Platz in der Mitte einnehmen. Die SPD wäre dann wie die Sozialisten in Frankreich nur noch eine unbedeutende Splitterpartei.
Und die zweite Option?
Die andere Option wäre die, dass sich die SPD aus den Bundesländern als dem letzten Hort sozialdemokratischer Stärke wieder regeneriert und auch neues Führungspersonal hervorbringt. 2029 könnte es zu einer völlig neuen politischen Lage kommen, zu einer CDU-CSU-geführten Minderheitsregierung mit der SPD in der Opposition. Dann könnte es sein, dass die SPD noch einmal zu neuer Kraft heranwächst. Aber seien wir ehrlich: Das ist nur eine ziemlich entfernte Hoffnung für die SPD.