Kanzler Merz stellt in Litauen eine Panzerbrigade feierlich in den Dienst. Sie besteht zwar erst aus 400 Soldaten. Aber an der Ostflanke nimmt man, was man kriegen kann.
Hunderte Einwohner sind auf den Kathedralenplatz gekommen, Männer, Frauen, Kinder. Kein Gitter, das sie von den deutschen Soldaten trennt, kein Regen, der sie vertreiben könnte. Teile der 10. Panzerdivision haben Aufstellung genommen, das Heeresmusikorchester ist aufmarschiert. Und ringsum Menschen, die Fähnchen schwenken, den Reden applaudieren, und später, als die Bundeswehr-Helikopter tief über den Platz knattern, jubeln einige von ihnen sogar.
Solch einen Empfang hatte er als Kanzler auch noch nicht. Für so viel ungetrübte Begeisterung muss Friedrich Merz schon nach Vilnius fliegen.
Alle Staaten könnten sich darauf verlassen, „dass wir jeden Zentimeter ihres Territoriums verteidigen“, hat Merz bei seinem letzten Besuch in Litauen gesagt. Genau ein Jahr ist das her, der Kanzler hieß damals noch Olaf Scholz. Der neue ist nun wieder nach Litauen gereist, und wieder versichert er: „Liebe Litauerinnen und Litauer, Sie können sich auf uns, Sie können sich auf Deutschland verlassen.“
Die größte Herausforderung in der Geschichte der Bundeswehr
Dies ist keine reine Höflichkeitsfloskel, denn für Merz markiert dieser Tag ein historisches Datum. An diesem Donnerstag stellt er die deutsche Brigade „Litauen“ mit einem Aufstellungsappell feierlich in Dienst. Es sind zwar erst 400 deutsche Soldaten da, aber spätestens Ende 2027 sollen es 5000 sein – ausgerüstet mit Leopard- und Puma-Panzern und allem, was es braucht, um Russland abzuschrecken. Das wird noch einiger Anstrengung bedürfen. Aber wie sagte Merz in seiner Ansprache: „Freiheit ist nicht umsonst“ – was auf Englisch freilich noch ein bisschen besser klang: „Freedom is not for free.“
Die Operation gilt als hochkomplex, als größte Herausforderung in der Geschichte der Bundeswehr. Darum ist nicht nur der Kanzler gekommen, er hat auch Verteidigungsminister Boris Pistorius mitgebracht.
Willkommen sind die Deutschen. Zur Feier des Tages blinkt im Fahrtziel-Display an den Linienbussen im Zentrum von Vilnius der Schriftzug „LIT ❤️ DEU“. Immer mehr Schüler lernten Deutsch, heißt es, auch die Zahl der Städtepartnerschaften habe zugenommen. An einem Hochhaus im Stadtzentrum prangt seit Beginn des Ukraine-Kriegs weithin sichtbar der Schriftzug: „Putin, the hague is waiting for you“ – gemeint ist das dortige Kriegsverbrechertribunal.
Alles dreht sich um Putins Aggression
Um den russischen Präsidenten, seine möglichen nächsten Ziele, geht es in Litauen schon lange. Die knapp drei Millionen Einwohner sehen sich in der ersten Verteidigungslinie, sie fürchten, das nächste Opfer russischer Aggression zu werden. Die Gründe dafür sind geografischer Natur. Die Hauptstadt liegt keine 50 Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt – Russlands wichtigstem Verbündeten.
Die einzige Landverbindung zum Westen, zum Nato-Partner Polen und den hoffentlich nie benötigten Nachschubwegen ist die Suwalki-Lücke, jener 70 Kilometer breite Spalt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und eben Belarus. Schon im Herbst findet dort ein großes Manöver statt, der Überfall auf die Balten wird simuliert, wie Litauens Präsident Gitanas Nauseda vorhersagt. Mit Provokationen ist zu rechnen.
Dem größten der kleinen Balten fällt damit eine Schlüsselrolle in der Ost-Strategie der Nato zu. Mit der kleinen 1300 Mann starken Truppe, die das Bündnis seit 2017 unter dem Namen „enhanced Forward Presence“ in Litauen stationiert hat, hielte man im Zweifel keinen russischen Angriff auf. Die multinationale Truppe steht ebenfalls unter deutscher Führung. Spätestens seit der Invasion in der Ukraine verspricht sich von dieser Präsenz niemand mehr eine größere Abschreckung.
Eine dauerhaft stationierte deutsche Brigade mit 5000 Soldatinnen und Soldaten ist da schon eine andere Ansage. Litauens Präsident hatte darum schon im vergangenen Mai beim Scholz-Besuch mehr Tempo angemahnt: „Wir können uns nicht den Luxus leisten, auch nur eine Minute zu vergeuden.“
Von 5000 Soldaten sind die Deutschen noch weit entfernt
Dafür müsste die Truppe aber erst mal stehen. Das Vorkommando mit etwa 20 Personen, das im vergangenen April entsandt wurde, ist inzwischen zu einem Aufstellungsstab angewachsen mit etwa 400 Soldaten. Bis Ende des Jahres sollen es 500 sein. Das klingt nicht nach dem von Scholz einst propagiertem Deutschlandtempo. Oder gerade. Immerhin sollen es im nächsten Jahr schon 2000 Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten sein.
Auch damit wäre man noch weit entfernt von den vereinbarten 5000, die laut Plan ab Ende 2027 an den Standorten Rukla und Rūdninkai stationiert sein sollen. Dafür sollen die Soldaten dort auch dauerhaft stehen – also nicht mehr für nur sechs Monate, sondern für drei Jahre Einsatzzeit.
Die Bundeswehr setzt auf Freiwilligkeit. Findet Pistorius unter seinen eigenen Soldaten genügend, die freiwillig für drei Jahre nach Litauen ziehen – samt Ehepartnern, Kindern und Haustieren? Die Aufgabe ist also auch ein Test für eine mindestens ebenso große Herausforderung, die vor dem Minister liegt: die Einführung seines neuen Wehrdienstes, der laut den bisher bekannten Plänen ebenfalls auf Freiwilligkeit setzt.
Es ist schon Merz‘ dritte Reise nach Osteuropa
Für Merz ist der Tagestrip nach seinen Antrittsbesuchen in Warschau und Kiew bereits die dritte Reise nach Osteuropa in seiner jungen Kanzlerschaft. Man darf das als Symbol verstehen. Darum war es ihm auch so wichtig, die deutsche Brigade noch vor dem Nato-Gipfel Ende Juni in Den Haag offiziell an den Start zu bringen. Das Signal: Wir liefern. Was tut ihr?
Diese Botschaft gilt ausdrücklich auch dem größten Partner auf der anderen Seite des Atlantiks. Das ist er doch noch, ein Partner? Mehrfach hat Merz mittlerweile mit dem US-Präsidenten telefoniert. Die Sorge, dass sich die USA unter Trump aus der Verantwortung für die Ukraine stehlen könnten, sie ist seit dem unglücklichen Gespräch vom Montag unter den Europäern fast ins Panische gestiegen.
Was heißt das für den Frieden, zumindest für einen baldigen Waffenstillstand? „Es ist ein Prozess, der gerade erst begonnen hat und noch viele Wochen, vielleicht Monate dauern wird“, sagt Merz in Vilnius. „Machen wir uns keine Illusion: Es gibt keine schnelle Lösung.“ Es ist nicht ganz klar, auf wen der Satz gemünzt war, Putin oder Trump. Passen tut er auf beide.