Roland Kaiser, der Altmeister des deutschen Schlagers, spielt auf seiner Tour wie kaum ein anderer mit versteckten Sehnsüchten, die in der Mitte der Gesellschaft schlummern.

Fahrrad-Rikschas bringen seine Fans in Berlin vom Ostbahnhof zum Ort des Geschehens. Die Fahrer haben zwecks Kundengewinnung kleine mobile Lautsprecher an ihre Wagen montiert, aus denen zigfach seine großen Hits durch die Straßen von Friedrichshain donnern: „Santa Maria“, „Manchmal möchte ich schon mit Dir“ oder „Lieb mich ein letztes Mal“. Der Kitsch aus den Boxen klingt komisch neben der bunt bemalten East Side Gallery Berlin, wo die Metropole sich wild und ungezähmt findet, aber doch schon längst nicht mehr „rough“, sondern mit schicken Neubauten schwer durchgentrifiziert ist.

Vor der Uber-Arena erwartungsvolle Spannung, kleine Gruppen von Damen fortgeschrittenen Alters, Selfie hier, Selfie da, Holla und Hoppla, aufgekratzte Stimmung, die an „Tupper“-Parties erinnert. „Tupperware“ ist längst schon insolvent, aber Roland Kaiser ist immer noch da. Der Mann hat alles überlebt, sogar „Tupper“-Parties – unglaublich.

Drinnen in der Halle ertönt jetzt mehrfach ein Gong, feierlich, wie bei einem Sinfoniekonzert: bitte, die Plätze einzunehmen. Punkt 19.30 Uhr geht es los, auf die Sekunde genau, wie angekündigt, im Publikum sagt einer: „Mit deutscher Pünktlichkeit, so muss es sein. Dass man das noch erleben darf.“

© Frank Embacher

Roland Kaiser, das Original

Dass man das noch erleben darf. Deutscher Schlager, ganz feierlich, mit einer gewissen Ernsthaftigkeit auf die Bühne gebracht. Scheinwerferkegel zielen auf die Bühnenmitte und plötzlich ist er da: Roland Kaiser, schwarzer Anzug, schwarze Weste, schwarze Fliege, weißes Einstecktüchlein, angemessene Berufskleidung also für den Altmeister, das Original. „Ich werde da sein“, das Intro, dargebracht mit erstaunlich rauer Stimme, die ihm ganz gut steht. 

„Ich schaue hoch zu den Sternen und stehe mit beiden Beinen fest auf dem Boden“, sagt er danach zur Begrüßung. Damit ist das Thema dieses Abends schon gut umrissen: oben bei den Sternen die Träume – unten das Leben, wie es nun mal ist in seiner sehr durchschnittlichen Alltäglichkeit, mit der die meisten ja irgendwie klarkommen müssen, zwischen TÜV-Termin, Ärger mit dem Chef und der nächsten Rate für die Doppelhaushälfte.

Die Arena proppenvoll, erwartungsvolle Blicke, im Publikum vor allem Paare, die Herren gerne in „Camp David“-T-Shirts betont sportlich, die Damen mit Handtasche, sicherheitshalber schräg über den Oberkörper gehängt. Altersspanne: zwischen 30 und 60, mit klarem Schwerpunkt in der Kohorte 50plus. Erster, zugegeben oberflächlicher Befund: Menschen, die weder dem neurechten Wahnsinn anheimgefallen sind, noch im woken Wolkenkuckucksheim leben. Roland Kaisers Publikum ist die deutsche Mitte. Menschen, von denen Politiker gerne sagen, dass sie „den Laden am Laufen halten“.

© Matthias Gränzdörfer

Eine wunderbar warme Stimme, die sagt: Ich verstehe Dich

Und er Schlagerstar umschmeichelt diese Mitte wie kein Zweiter. Er hat eine wunderbar warme, schöne, tiefe Stimme. Es ist eine Stimme, die sagt: Ich verstehe Dich. Es ist alles gut, wie es ist, aber trotzdem wird man ja wohl ein bisschen träumen dürfen. 

Gleich an dritter Stelle folgt „Dich zu lieben“, einer seiner ganz großen Hits. Vor allem der weibliche Teil des Publikums in der Halle steht jetzt auf. Sanft wiegen sich die Damen zu den Zeilen:

Dich zu lieben, dich berühren
Mein Verlangen, dich zu spüren
Deine Wärme, deine Nähe
Weckt die Sehnsucht in mir auf ein Leben mit dir

Violinen, Cello, Saxophon, Backgroundsängerinnen und ein Gitarrist mit Tattoos und wilder Haarmähne werden aufgeboten und legen einen breiten Soundteppich. Im Halbdunkel der Ränge leuchten lila Haarreifen mit stilisierter „Kaiser“-Krone, tausend Träume schweben durch die Uber-Arena. Sie erzählen vom Ausbruch aus Routine und Zwang, von der Sehnsucht nach wahrer Leidenschaft, großem Gefühl und ekstatischem Sich-Selbst-Verlieren.

Ein Hauch von Melancholie umweht den Mann mit dem Einstecktüchlein 

Kaiser, inzwischen 73 Jahre alt, schreitet die Bühne ab, fast würdevoll, als fertige er die Gedanken erst beim Singen. Bei alldem umweht den Mann mit dem Einstecktüchlein ein Hauch von Melancholie und grundlegender Vergeblichkeit. Die untergründige Botschaft seiner Lieder: Ich könnte ein ganz anderer sein als der, der ich bin. Aber: Will ich das wirklich? In dieser Ambivalenz hält er seine Lieder, hält er sein Publikum, immer an der Schnittstelle von „Ich muss“ und „Ich würde so gerne“ – die vielleicht spannendste Schnittstelle, die das Leben zu bieten hat. 

Über zwei Stunden hüllt seine warme Stimme die Arena in Berlin ein, sie kriecht die Ränge hoch, kriecht in die Seelen, hundertfach, tausendfach. Sogar in der Konzertpause beschallt sie die Warteschlangen an den Getränkeständen und erzählt von Sonnenuntergängen, heißer Haut und Leidenschaft, die sich selbst verzehrt, während sich das Publikum zwischen Aperol Prosecco und Cranberry Caipirinha entscheiden muss.

Es gibt in der Szene des deutschen Schlagers genug andere: die unverwüstliche Schweizer Import-Stimmungskanone Beatrice Egli, den Barhocker-Melancholiker Howard Carpendale auf ewiger Abschiedstour und, na klar: Andrea Berg und Helene Fischer, unumstrittene Königinnen im Business, wobei letztere inzwischen so ungerührt und nervtötend-perfekt alles wegsingt, was ihr vor die Stimmbänder kommt, von „We Will Rock You“ bis zu „backe, backe Kuchen“, das nur noch Instant-Gefühle übrigbleiben.

Keine Mätzchen, keine Kaspereien

In diesem schillernden Figurenpanorama hat Roland Kaiser sich über die Jahre seinen ganz besonderen Platz ersungen: keine Mätzchen, keine Kaspereien, auch keine Ironisierung des Schlagers zum „Kult“, stattdessen: gutsitzender Anzug, perfekte Manieren, Scheitelfrisur – das seriöse Fach also.

Mit über 90 Millionen verkauften Tonträgern gehört der Mann zu den erfolgreichsten Interpreten des Genres. Unten am Merchandising-Stand in der Uber-Arena gibt es Roland-Kaiser-Duftkerzen, Roland-Kaiser-Regenschirme und Roland-Kaiser-Sektkelche aus Porzellan, auf denen „RK und ich“ steht. „RK und ich“ – so viele fühlen sich von ihm verstanden, ermutigt und ganz persönlich gemeint. So was muss man erst mal hinkriegen.

Die Frage ist: Wie macht er das? Was weiß Roland Kaiser über die Menschen, was wir nicht wissen?

Eine stern-Kollegin hat Roland Kaiser vor Jahren mal als den „Soft-Pornographen des deutschen Schlagers“ bezeichnet, das trifft die Sache gut. Klar, es gibt in jedem Konzert von ihm die Abteilung Weltanschauung. Roland Kaiser ist seit über zwei Jahrzehnten Mitglied der SPD, er fordert in Berlin gleich in einem der ersten Songs „Achtung und Respekt“, wendet sich gegen „Hass und Hetze“ und das Publikum feiert ihn dafür, was durchaus beruhigend ist. Aber richtig Stimmung kommt an diesem Abend in Berlin immer dann auf, wenn es um das eine geht: Sex. 

Kaiser entfesselt die Lüste seines Publikums

Im Grunde denken alle nur daran, das ist in der Uber-Arena nicht anders als im gleich nebenan liegenden, als Sündenbabel geltenden „Berghain“. Roland Kaiser singt vom Sex am Strand („Santa Maria“), vom Sex zu dritt („Du, Deine Freundin und ich“), von rosa Spitzenunterwäsche und guten Vorsätze, die in ein weibliches Dekolleté „stolpern“ („Kurios“).

Nie ausgesprochen, aber stets präsent geistert das Thema als kollektiver, bürgerlich gebändigter Triebstau durch die Reihen und Kaiser, dieser „Gentleman der Unterhaltung“ (Pressetext) versteht es, den Wunsch nach entfesselter Sexualität und Ausbruch aus ehelicher Ödnis per Seitensprung durchzufantasieren, um ihn Sekunden später gleich wieder einzufangen – wohl wissend, dass alles andere ganze Lebensentwürfe zerstören und ins Verderben führen würde: 

„Manchmal möchte ich schon mit Dir
eine Nacht das Wort ‚Begehren‘ buchstabieren
Manchmal möcht ich so gern mit Dir
Doch ich weiß, wir würden viel zu viel riskieren“ 

„Es gibt Leute, die sagen, sowas kannst Du doch nicht singen“, sagt Kaiser zum Publikum. „Aber wo ist das Problem? Ich mach‘s ja nicht, ich möchte ja nur.“ Vieldeutiges Grinsen auf den Rängen.

Eine letzte Zugabe, Kaiser verneigt sich tief. Dann ist es vorbei.

© Jakubaszek / Redferns

So viele Träume innerhalb von zweieinhalb Stunden 

„Ich mach’s ja nicht, ich möchte ja nur“ – schöner kann man es nicht auf den Punkt bringen, exakt das ist das Grundgefühl des Abends. So viele Träume, zweieinhalb Stunden lang und damit auch: so viel nicht gelebtes Leben. Aber vielleicht ist der Traum vom Ausbruch in enthemmte Leidenschaft viel schöner als dessen Realisierung?

Außerdem warten draußen auf dem Parkplatz der Uber-Arena die Mittelklassewagen auf ihre Besitzer, warten Zwänge und Kompromisse. Es muss ja morgen früh schon alles weitergehen, der „Laden am Laufen“ gehalten werden. Da kann ein Schlagersänger schlecht Systemsprenger sein, er muss für emotionale Entlastung sorgen.

Beim Verlassen der Halle ist es draußen noch angenehm warm. Da hinten irgendwo ist Berlin, die Nacht, das Leben. Ach, manchmal. Manchmal möchte man schon …

Aber man würde viel zu viel riskieren.