Die Wahl zum Kanzler lief für Friedrich Merz komplizierter als erwartet. Die Presse sieht den Kanzler geschwächt – und geht mit den Abweichlern hart ins Gericht.

Zwei Wahlgänge hat Friedrich Merz gebraucht, um von den Abgeordneten im Bundestag zum neuen Bundeskanzler gewählt zu werden. 18 Stimmen fehlten ihm beim ersten Versuch.

Ein Szenario, das es so in Deutschland noch nie gab und mit dem vorher kaum jemand gerechnet hatte. Friedrich Merz kassierte damit einen harten Dämpfer, noch bevor er sein Amt überhaupt angetreten hatte. Die Presse sieht den neuen Kanzler dementsprechend in einer schwierigen Position.

Pressestimmen zur Kanzlerwahl von Friedrich Merz

„Kölner Stadt-Anzeiger“: „Der im zweiten Anlauf gewählte Kanzler wird sein Amt aus der Defensive heraus antreten. Nach diesem dramatischen Tag ist er angeschlagen. Das macht die Umsetzung der Versprechen von Aufbruch, Politikwechsel und neuer Funktionsfähigkeit des Staats umso schwieriger. Es bleibt die Hoffnung, dass das 100-Tage-Programm der Regierung zündet. Auch auf internationalem Parkett wird Friedrich Merz Zweifeln begegnen, ob er als Regierungschef wirklich fest im Sattel sitzt. Und die Opposition im Bundestag wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit austesten, ob die Regierung eine eigene Mehrheit zustande bringt. Merz wird um seine Autorität kämpfen müssen.“

„Stuttgarter Zeitung“: „Beim vermurksten ersten Akt der Kanzlerwahl handelt es sich um einen demokratischen Suizidversuch. Demokratisch daran war allein die Abstimmung selbst. Die Intentionen der destruktiven Minderheit aus dem Kreis der Koalitionsfraktionen waren hingegen in hohem Maße demokratieschädlich, ja mehr noch: demokratiegefährdend. Wer das nicht schon im Moment der Stimmabgabe kapiert hat, muss sich nur die Reaktionen derer vor Augen halten, die über die ‚etablierte‘ Politik ohnehin ständig daherreden, als handle es sich um ein korruptes Schmierentheater. Ihr übles Spiel haben sie nun mit einer Trumpfkarte bereichert. Von dieser Heimtücke können nur die profitieren, die einen anderen Staat anstreben.“

Deutschland ein unregierbares Land?

„Volksstimme“: „Wird Deutschland zu einem unregierbaren Land? Dazu muss gewiss weit mehr schiefgehen als bei der beinahe gescheiterten Merz-Wahl. Doch ein Menetekel für weiteren Ordnungsverlust war das Desaster schon: Im ersten Durchgang fiel Friedrich Merz durch – eine Premiere in der Demokratiegeschichte der Bundesrepublik. Was soll es da in den kommenden vier Jahren werden mit Schwarz-Rot? Vermutlich stammen die Abweichler der ersten Runde aus der SPD von Vizekanzler Klingbeil. Es könnte versteckte Rache sein, wegen verpfuschter Karriere oder aus Frust über das Regierungsprogramm, das die Jusos abgelehnt hatten. Angekündigt war aber eine Reformregierung und keine neue Streit-Truppe. Die Wahl-Quälerei verhalf der AfD zu einem unverhofften Triumph. Gerade noch war sie vom Verfassungsschutz als offen rechtsextremistische Organisation gebrandmarkt worden. Nun weidete sich die Partei an der Fassungslosigkeit im Regierungsbündnis. Das Parlament bleibt tief gespalten – wie das Land.“

„Nürnberger Nachrichten“: „Einfach zur Tagesordnung überzugehen, das verbietet sich. Das Land steckt in einer Krise und hat bereits Schaden genommen. Die Lage ist ernst. Viele Gespräche mit den Abweichlern sind nötig. CDU, CSU und SPD müssen nun in den eigenen Reihen für Geschlossenheit sorgen, sonst endet dieses Bündnis ebenso vorzeitig wie die Ampelregierung. Genau diese Geschlossenheit wurde vor der Kanzlerwahl als selbstverständlich vorausgesetzt. Ein großer Fehler! Denn offenkundig gab es für einige Parlamentarier gute Gründe, gegen den eigenen Kanzlerkandidaten zu votieren. Das muss rasch aufgearbeitet werden. Ein weiteres Debakel kann sich Schwarz-Rot definitiv nicht leisten.“

Abweichler „riskierten den Zustand der Unregierbarkeit“

„Augsburger Allgemeine“: „Wenn dieser Tag überhaupt etwas Gutes haben kann, dann ist es das: Merz muss erkennen, dass er so nicht weitermachen kann. Was in den vergangenen Wochen immer wieder verstörend auffiel, ist die absolute Selbstgewissheit, man könnte fast sagen Hybris, mit der Merz markige Entscheidungen verkündet – nur, um sie dann umgehend wieder einzurollen oder einzugestehen, dass sein Vorgehen nicht richtig zu Ende gedacht war.“

„Rhein-Neckar-Zeitung“: „Die nachhaltigste Lüge der NS-Zeit bleibt der Begriff ‚Machtergreifung‘. Adolf Hitler hat sich die Macht am 30. Januar 1933 nicht genommen. Sie wurde ihm überreicht. Es waren die Demokraten selbst, die die Demokratie in die Hände der Nazis legten. Und das bleibt unverzeihlich. Genau dieses Szenario stand am gestrigen Dienstag erneut bedrohlich über dem Himmel der Berliner Regierungszentrale: Eine Hand voll Abgeordneter aus Reihen von Union und SPD riskierten den Zustand der Unregierbarkeit, indem sie Merz ihre Stimme verweigerten. (…) Profitiert von dem Schwebezustand hat vor allem die rechtsextremistische AfD. Die Verfassungsfeinde müssen, solange ihre Partei nicht verboten ist, nur zuschauen, wie Demokraten sich die Macht gegenseitig aus den Händen schlagen. Den Rest würde eine Neuwahl des Bundestages erledigen. So einfach, so bedrohlich.“

„Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Mindestens 18 Abgeordnete der Koalitionsparteien stimmten nicht für Merz. Sie beschädigten damit nicht nur ihn, sondern auch alle in den Führungsetagen von CDU, CSU und SPD, die für die schwarz-rote Koalition eingetreten waren. (…) Möglicherweise wollten manche der Abweichler gar nicht, dass Merz durchfällt, sondern ’nur‘ nicht die volle Stimmenzahl erhält. Doch nahmen auch sie in Kauf, dass für diese Koalition schon an Tag eins der politische GAU eintrat, der größte anzunehmende Unfall. (…) Der Schaden, der mit dieser Verantwortungslosigkeit angerichtet wurde, ist nur mit harter und erfolgreicher Arbeit zum Nutzen des Landes und seiner Menschen wettzumachen. Dafür braucht eine Regierung aber eine verlässliche Mehrheit im Bundestag. Für die zu sorgen, ist die Hauptaufgabe der Fraktionschefs.“

„Neue Osnabrücker Zeitung“: „Merz ist Durchhaltevermögen zu wünschen – und dem Land ebenfalls. Mit Appeasement und dem Befrieden von Klientelinteressen, mit Rücksichtnahme auf eine überbordende politische Korrektheit und der permanenten Angst vor Kritik wird die Regierung nichts gewinnen können. Das sollten auch Merz‘ Gegner sehen. Wer sich in der Koalition selbst wichtiger nimmt als eine solide Regierungsbildung, wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Der gescheiterte erste Wahlgang illustriert, dass an der deutschen Krise nicht Russland Schuld trägt, nicht ein anderes Land oder Donald Trump und Corona schon gar nicht. Die Deutschen stehen sich selbst im Weg, die Parlamentarier mit ihrem Gebaren allen voran. Zeit, das zu ändern.“