Die künftige schwarz-rote Koalition setzt statt Wehrpflicht vorläufig weiter auf Freiwilligkeit. Militärexperten und Fachpolitiker haben dafür eher kein Verständnis.
In vier Jahren soll die Bundeswehr „kriegstüchtig“ sein. Diese Devise hat der bisherige und mutmaßlich auch zukünftige Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ausgegeben.
Konkret heißt das: In den kommenden vier Jahren muss die Bundeswehr so reformiert und ausgestattet werden, dass sie einen möglichen Angriff Russlands (oder eines sonstigen Gegners) auf Deutschland oder auf einen anderen Nato-Mitgliedstaat gemeinsam mit den Partnern abwehren könnte. Einsatzfähig zur „Landes- und Bündnisverteidigung“, kurz LV/BV, heißt das im Fachjargon.
Wie hilfreich ist dafür der neue Koalitionsvertrag? Bundeswehrexperten sind unterschiedlicher Meinung. Der Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel sagte ironisch im „ntv-Salon“, er habe sich „ärztlich versorgen“ lassen müssen, als er den Koalitionsvertrag zum ersten Mal gesehen habe. Nicht wegen dem, was drinsteht. Sondern wegen eines Wortes, das nicht drinsteht: der Wehrpflicht.
„Zunächst“ soll alles freiwillig sein
Stattdessen heißt im Vertrag vage: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Dabei wolle man sich „am schwedischen Wehrdienstmodell“ orientieren. Ein Widerspruch, denn das schwedische Modell sieht sehr wohl die Möglichkeit einer Zwangseinberufung vor, wenn die Zahl der Freiwilligen nicht ausreicht. Damit hat sich die SPD durchgesetzt, die eine Wehrpflicht ablehnt. Die Union hatte hingegen für eine Wiedereinführung plädiert.
Pistorius betreibt derzeit die Einführung einer abgespeckten Version des schwedischen Modells. Für 18-jährige Männer soll es lediglich die Pflicht zum Ausfüllen eines Musterungsbogens geben (für Frauen wäre es freiwillig). Musterung und Wehrdienst bleiben aber freiwillig. In Schweden ist dies der erste Schritt: Gelingt es nicht, genügend Freiwillige aus dem Pool zu rekrutieren, wird auch zwangseingezogen.
„Wehrpflicht wieder einführen“
Historiker Neitzel ist überzeugt: „Wir müssen die Wehrpflicht wieder einführen.“ Wie in Schweden müsse dafür nicht ein kompletter Jahrgang rekrutiert werden. Aber allein freiwilliger Basis werde dies aber nicht gelingen. Ähnlich sieht es Carlo Masala, Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, der ebenfalls Gast in der Talkrunde war.
Auch der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Peter Tauber (CDU), nennt den Verzicht auf die Wehrpflicht „ein schweres Versäumnis“ von SPD und Union. „Wenn es der Minister ernst meint mit der Umsetzung des schwedischen Modells für Deutschland, dann muss die Bundeswehr 50.000 Rekruten zusätzlich ausbilden pro Jahr“, sagte Tauber dem stern. „Ich bin gespannt, wie das mit dem bisher vorgestellten Konzept gelingen soll.“
Um voll verteidigungsfähig zu sein, bräuchte die Bundeswehr laut eigenen Berechnungen 460.000 bis 480.000 Soldatinnen und Soldaten (inklusive der Reservisten). Bislang schafft sie es aber trotz aller Werbemaßnahmen nicht einmal, die Zahl von rund 180.000 aktiven Soldatinnen und Soldaten signifikant zu erhöhen.
Der Sicherheitsexperte Christian Mölling vom Brüsseler Thinktank European Policy Centre sieht die Koalitionsvereinbarung positiver als seine Kollegen. „Meine größte Sorge war, dass man sich auf etwas festlegt, was dann noch realitätsferner ist als die jetzige Formulierung“, sagte er dem stern.
„Sonst fliegt uns das um die Ohren“
Nun müsse eine Diskussion darüber geführt werden, wie die Bundeswehr ihre diagnostizierte „Aufwuchslücke“, den Mangel an Soldaten, mit einem Wehrdienstmodell lösen könne, das sowohl geschlechter- als auch generationengerecht sei. Gelinge es nicht, Menschen zur Bundeswehr zu motivieren, würde die Idee eines neuen Wehrdiensts „einem ganz schnell um die Ohren fliegen“. Deshalb sei es gut, so Mölling, dass sich die künftige Regierung dabei noch nicht festgelegt habe.